Mittwoch, 18. Januar 2017

Die Wahrnehmung und das Sterben


Wahrnehmung. Darum ging es mir bisher immer. Um das Spüren, das Empfinden. Das Fühlen: nicht bewerten, nicht wegdrücken, nicht verändern wollen. Das, was an nicht Rationalem in uns wütet anerkennen, ihm Raum geben, es zulassen, es anschauen.

Vor zwei Wochen ist meine Mutter gestorben. Ich hatte das große Glück, dabei zu sein. Und ich hatte mich schon sehr lange darauf vorbereitet. Als ich klein war, hat meine Mutter, die an Multipler Sklerose litt, oft zu mir gesagt: Morgen bin ich eventuell schon nicht mehr da. Ich sterbe.

Ich habe erst viel später begriffen, wie sehr mich das beeinflusst hat. Wie früh dachte ich: Ich werde sie verlieren. Und wie oft war mir unklar, ob ich auch andere Menschen vielleicht früh verlieren muss. Ihre Sorge um den Tod hat mich geprägt, beeinflusst. Wie viele Anrufe, bei denen wir dachten: Jetzt ist es soweit. Sie wird sterben. Doch Mutter war zäh. Viele Krankheiten durchstand sie. Meine Mutter starb nicht. Bis zum 04. Januar.

Sie war unruhig gewesen. Die Pflegerin hatte uns erzählt, dass sie vor kurzem noch gemeinsam dem Ave-Maria von Bach gelauscht hatten. Wir spielten den Pachelbel-Kanon und unterhielten uns leise über Mozart und meine Erfahrungen mit Mozart-Musik bei unruhigen Kindern. Wieso sollte Mozart also nicht bei dieser Unruhe helfen? Mozart, der laut der Mär, sein eigenes Requiem geschrieben hatte. Wir schalteten das Requiem ein und hatten den Eindruck, Mutters Atem würde leichter. Irgendwann fingen wir an zu beten. Die Gebete, von denen uns unsere Mutter erzählt hatte, dass sie sie in mancher Bombennacht gebetet hatten. Hilf Maria, es ist Zeit, hilf Mutter der Barmherzigkeit. Dann das: Gegrüßt seist du Maria. Wir hielten ihre Hand. Dann ein Atemaussetzer. Wir stockten. Weitere Gebete. Der Rosenkranz. Nur, wie ging der genau? Die Musik hüllte das Zimmer weiter in Klang. Ihr Lieblingspfleger Sebastian kam kurz herein. Mutters Atem wurde noch sachter. Dann ging das Requiem in seine letzten Takte. Ich hatte etwas Sorge. Gleich würde Applaus einsetzen. Was sollte ich dann tun? Das Musikstück ausschalten? Weggehen vom Bett? Das wollte ich nicht. Schon waren die Atemaussetzer länger. Und dann plötzlich hörte sie auf zu atmen. Es war sehr still. Fast feierlich. Und dann setzte der tosende Applaus ein. Und es war als wäre es der Applaus für ihr Leben, für alles, was sie geschafft und gemeistert hatte. Es war überhaupt nicht deplatziert. Es war absolut passend. 
Ich habe oft „Königinnen“-Workshops gegeben, mit Gestalttherapie- und Improvisationstheaterelementen, zum spielerischen Erlernen und Ausprobieren eines anderen Status, einer anderen Haltung. Die oberste Königinnenwürde aber hatte immer meine Mutter. Sie war stolz und würdevoll, wo ich hampelig war und gegen Despotentum und nach Gerechtigkeit schrie. Dass der Bestatter „König“ hieß, ist dabei fast ein weiteres passendes Detail. Ein silberner Mercedes fuhr sie ehrenvoll am nächsten Tag davon. Wir hätten es uns nicht stilvoller für sie wünschen können.

Und nun? Als ich am Tag der Beerdigung über die Gräber schaute, weit in die Ferne, hinauf zu den Wolken, da sah ich, entfernt von den nahestehenden Trauernden, das Gesicht meiner Freundin.
Meine Eltern. Die Quelle von so viel meines Genervtseins und Rebellion, Trauer, Wut, Enttäuschung, Ohnmacht, aber auch von dem Gefühl, ein zu Hause zu haben, ein Haus, eine Familiengeschichte, eine Tradition. Sie waren nun zur diamantenen Hochzeit, zum sechzigsten Hochzeitstag wieder vereint. Mein Freund spielte auf dem Akkordeon (dem Unterhaltungsmusikinstrument meines Vaters) ein Lieblingslied der Eltern: Ganz Paris träumt von der Liebe, das langsam und in Moll gespielt einem Trauerleid gleicht. 

Das war melancholisch und sehr berührend. Es war, als wäre eine Geschichte zu Ende erzählt. Dies ist ihr Schlussakkord.



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